- gotische Sakralarchitektur in Frankreich: Bauen mit Licht
- gotische Sakralarchitektur in Frankreich: Bauen mit LichtKaum ein zweites Bauwerk der europäischen Kunstgeschichte vereinigt so viele neue Ansätze in sich wie die ehemalige Abteikirche von Saint-Denis. Fassade und Chor, unter Abt Suger, einem hervorragenden Politiker und Administrator, zwischen 1130/35 und 1144 errichtet, gelten als Schöpfungsbau der Gotik. Vor allem der Chor, von dem nur Umgang und Kapellenkranz erhalten blieben, erweist sich als das eigentliche Manifest der Gotik: Skelettierung der Mauersubstanz, konsequente Verwendung von Kreuzrippengewölben und eine neue Lichtfülle - das sind Eigenschaften, die man immer mit Gotik gleichgesetzt hat.Bereits die Baumeister der Romanik teilten zwar die Binnenstruktur des Kirchenraums in Stützen und Füllwände auf und betonten die Rhythmisierung von Wänden und Räumen in einzelne Segmente durch plastische Vorlagen; sie berücksichtigten auch den Wunsch nach größerer Lichtfülle, indem sie vor allem die Chorumgänge mit riesigen Fenstern ausstatteten. Das Neue an Saint-Denis ist dagegen die ungezwungene Eleganz im Zusammenspiel aller Teile, eine fast unglaubliche Leichtigkeit der Struktur und eine höchst raffinierte Abstufung ähnlicher Formen. Säulen, Wandvorlagen, Fensterrahmen, Gewölbe erscheinen nicht mehr - wie in der Romanik - additiv zusammengesetzt, sondern zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Der Feingliedrigkeit dieser Architektur entspricht die Leuchtkraft der großen, in den ein- und ausschwingenden Kapellenwänden regelmäßig angeordneten Fenster. Eine homogene Helligkeit verwandelt das Bauwerk zu einer wahren »Lichtarchitektur«.Wie die Obergeschosse des Suger-Chors in Saint-Denis ausgesehen haben, weiß man nicht. Besaß er Emporen wie fast alle anderen frühgotischen Großbauten? Viele dieser Kirchen weisen im Mittelschiff sogar vier Zonen auf: nicht nur Arkaden, Emporen und Hochschifffenster, sondern zwischen den beiden letzteren noch den Laufgang des Triforiums. Das wohl früheste Beispiel dieses Schemas bietet die Kathedrale von Noyon, die kurz vor 1150 begonnen wurde. Die Struktur des Langhauses von Noyon ähnelt romanischen Bauwerken in der Normandie und England durchaus: Der Stützenwechsel - die alternierende Abfolge von Gliederpfeilern und Säulen - ist ebenso ein Erbe der Romanik wie die Emporen; auch der Laufgang des Triforiums ist keine Neuerfindung. Im viergeschossigen System der Frühgotik wird diese Aushöhlung der Mauer aber von der Fensterebene in die darunter liegende Zone verlagert. Durch die generelle Verschlankung der Baustruktur gleichen sich zudem optisch alle körperhaften Rundungen trotz unterschiedlicher Stärke aneinander an. Vor dem Anbau von Seitenkapellen strömte durch die Seitenschifffenster ebenso viel Licht in den Mittelraum wie durch die Emporen. Die Hochfenster als einzige ungefilterte Lichtquelle erhellen in erster Linie das vom Betrachter weit entfernte Gewölbe. So war der Kirchenraum unten und oben gleichmäßig beleuchtet.Der Stützenwechsel ist für den frühgotischen Großbau nicht die Regel. Einige der bedeutendsten Werke, beispielsweise die Kathedralen von Laon und Paris, setzen die Arkaden ausschließlich auf stämmige Säulen. Erst über diesen steigt das feingliedrige Vorlagensystem an der Mittelschiffwand empor. Einerseits ein bewusst angestrebter Kontrast, soll die gleichmäßige Säulenaufreihung andererseits wohl auch an die Architektur des ersten Jahrtausends erinnern und damit auf die jeweils in frühchristlicher Zeit begründete Tradition der lokalen Kirche hinweisen. Bezeichnenderweise apostrophieren auch die mittellateinischen Quellen den »Neubau« über einer Vorgängerkirche häufig als deren »Wiederherstellung: Das Alte entsteht nochmals, nun in prächtigerer Form.Die Auflösung der Mauermasse in Stützen und Einzelglieder, die die Frühgotik kennzeichnet, betrifft auch den Außenbau. Ein hervoragendes Beispiel für dessen völlige Durchgliederung bietet die beeindruckende Silhouette der in schönster Hügellage thronenden Kathedrale von Laon. Dem Imponiergehabe der geistlichen Herren gegenüber den Stadtbewohnern ist es wohl zu verdanken, dass in Laon erstmals eine Kathedrale mit drei Doppelturmfassaden ausgestattet wurde. Wären auch die östlichen Querhaustürme ebenso hoch wie die anderen Türme aufgeführt worden, würden zusammen mit dem Vierungsturm nicht nur fünf, sondern sieben Türme in den Himmel ragen. Die Türme von Laon könnte man als »Lichtkäfige« bezeichnen: In den obersten Freigeschossen löst sich die Masse des Turmkörpers in ein durchsichtiges Gerüst aus Säulen, Pfosten und Arkaden auf.Die gegenseitige Durchdringung von Innenraum und Außenbau zeigt auch der Chor der ehemaligen Abteikirche Saint-Remi in Reims. In der Außenansicht besteht er hauptsächlich aus drei übereinander gestuften Fensterkränzen, von denen die beiden oberen zur Beleuchtung der Emporen und der Mittelschiffgewölbe jeweils in Dreiergruppen rhythmisiert sind; die Mittellanzette der übergroßen Emporenfenster durchstößt sogar das Gesims und den Dachansatz. Im Inneren erfüllen die drei Fensterkränze das Mittelschiff mit jenem »wunderbaren und gleichmäßigen Licht«, von dem Abt Suger in Saint-Denis schwärmte. Eine so weitgehende Auflösung der Mauern war statisch nur möglich, weil der Seitendruck der Wände und der Schub der Gewölbe durch Hilfsstützen aufgefangen wurde. Diesem Zwecke dienen die weit gespannten, auf kräftigen Mauerscheiben ruhenden Strebebogen.Kurz vor 1200 setzte die französische Sakralarchitektur zu einem entscheidenden Umbruch an. Sie wandte sich von der preziösen Feingliedrigkeit ab und veränderte sich im Sinne einer kraftvollen Monumentalität, die man als Hochgotik oder auch »klassische Gotik« bezeichnet. Eine Zwischenstellung nimmt noch die 1195 begonnene Kathedrale von Bourges ein, die im Querschnitt eine pyramidale Staffelung der Räume zeigt. Der eigentliche Durchbruch zur Hochgotik war indessen bereits um 1190/91 der Kathedrale von Soissons gelungen. Sie verwirklichte erstmals den auf völligen Ausgleich zwischen Arkaden und Hochschifffenstern bedachten Aufriss: Beide sind jetzt gleich hoch. Exakt in der Mitte zwischen ihnen erstreckt sich das Triforium. Horizontale und Vertikale halten das Gleichgewicht. Die monumentalen Rundpfeiler verbinden sich durch das ihnen vorgelegte Säulchen mit den Vorlagenbündeln der Wand, letztere werden aber von den Gesimsen zweimal kräftig überschnitten. Noch nie zuvor hatte es ein Bauwerk mit derart riesigen Fenstern gegeben: Zweifellos wurde diese Architektur in erster Linie als Bildträger für die farbige, heute weitgehend zerstörte Glasmalerei geschaffen. Die Kathedralen von Chartres, Reims und Amiens übernahmen den Aufriss von Soissons, variierten ihn aber je auf ihre Weise: Chartres bereicherte ihn mit dem kantonierten Pfeiler, Reims mit dem Maßwerk. Amiens zog die vorläufige Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung: Der runde Kern der Arkadenpfeiler ist mit vier kleineren Rundvorlagen »kantoniert«, von denen die dem Mittelschiff zugewandte eine Verbindung zu den Gewölbediensten herstellt. In den riesigen Hochschifffenstern, die keine Wandstreifen übrig lassen, sitzen geometrisch komponierte Gitter aus Steinfiligran, die Maßwerke.Während sich in Amiens trotz aller Betonung der Senkrechten die Pfeiler und die einzelnen Geschosse noch deutlich voneinander abheben, wird in der nächsten Phase die gesamte Baustruktur als zusammenhängendes Gitterwerk behandelt. Man spricht jetzt vom »Style rayonnant«, der seinen Namen den sonnenartig strahlenden Maßwerkrosen verdankt. An den Pfeilern des 1231 begonnenen Neubaus der Abteikirche von Saint-Denis wird zwischen den Säulchen, die zum Gewölbe hinaufführen und denjenigen, welche die Laibung der Arkade vorbereiten, nicht mehr unterschieden: Der regelmäßig von Säulchen umstellte gotische »Bündelpfeiler« ist geboren. Sämtliche Gewölbesäulchen steigen an Pfeiler und Hochwand ohne die geringste horizontale Unterbrechung empor. Zwischen diesen Vorlagenbündeln werden die Maßwerke des Triforiums und der Hochschifffenster zu einer einzigen, leicht zurückversetzten Maßwerkplatte vereinigt. Da auch die Rückwand des Triforiums durchfenstert ist, entsteht der Eindruck eines »Glashauses«. Mit Saint-Denis ist der Endpunkt einer Entwicklung erreicht, der allenfalls noch Verfeinerungen oder Vereinfachungen erlaubte. Wohin das subtile Spiel mit Rundgliedern, Hohlprofilen und Maßwerkgittern führen konnte, zeigt die Abteikirche Saint-Ouen in Rouen, ein Bauwerk von höchster Eleganz und ätherischer Leichtigkeit.Es versteht sich von selbst, dass auch der Außenbau an der für die Rayonnant-Gotik charakteristischen Vereinheitlichung von Struktur und Einzelgliedern partizipiert. So besteht das obere Geschoss der Pariser Sainte-Chapelle fast nur noch aus Strebepfeilern und Maßwerkfenstern. An den Querhausfassaden von Notre-Dame in Paris sind die blinden Mauerteile ebenso zart wie die Maßwerkgitter. Die unterste Zone wird von einer schwerelosen Giebelkulisse verkleidet; sie lässt den letzten Rest kompakter Mauermasse verschwinden, indem sie die Illusion einer fünfteiligen Portalanlage erweckt, obwohl nur ein einziger Eingang vorhanden ist. Höhepunkt und Zentrum der Längsansicht dieser Kathedrale bilden die riesigen Rosenfenster - die größten der ganzen Gotik.Prof. Dr. Peter KurmannDie gotische Architektur in Frankreich, 1130—1270, Beiträge von Dieter Kimpel und Robert Suckale. Studienausgabe München 1995.Das Jahrhundert der großen Kathedralen, 1140—1260, bearbeitet von Willibald Sauerländer. München 1990.Triumph der Gotik, 1260—1380, bearbeitet von Aus dem Französischen. München 1988.
Universal-Lexikon. 2012.